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Tageszeitung Junge Welt vom 4.12.2005, Wochenendbeilage, Seite 4 (Beilage)

Der Widerhall der steinernen Glocke

Tausende Menschen aus aller Welt strömen gerade zu Weihnachten zur wiedererrichteten Frauenkirche. Auch die Erbauer zieht es zu ihrem Werk

Bernd Hahlweg
Presseartikel

Bei Berlin denkt der Reisende an alles Mögliche, bei München an Schickimicki und das Oktoberfest, bei Hamburg an den Hafen und die Reeperbahn, bei Dresden aber kommt einem Kunst in den Sinn, barocke Zier. Der Zug kriecht in die laute Halle. »Drääsd’n-Haubtbahnoof!« Wie eine kleine barocke Volute kringelt es mit leichtem Singsang schön breit an den meisten Worten der Elbstädter. In der Weihnachtszeit noch fetter, wenn die Dresdner auf ihrem Striezelmarkt Glühwein picheln. »Nunu.«

Ja, was Besonderes und üppig muß es in der Sachsenmetropole schon sein. In meiner Pension ließ der »kunstsinnige« Wirt sogar das Treppenhaus mit Dresden-Motiven bepinseln. Natürlich mit der Frauenkirche! Und mitten im Hilton-Hotel bildet die Kuppelkirche den Schlot eines Pfefferkuchenhauses. Mir graut’s, ich will endlich den wirklichen Zentralbau sehen. Als ich zwischen den Gassen die so markante Kuppel erblicke, zieht sie mich magisch an, besetzt mich voll, bewirkt, daß ich sämtliche Museumsbesuchspläne hinausschiebe …

Am Tor B kommen freudige Besucher heraus. Ein junger Mann in Latzhose prüft, wie die schwere Tür schließt. »Ich will wissen, ob sie auch bei Kälte und Nässe tadellos funktioniert«, erklärt Jan Otto. Der Tischlermeister aus Dresden hatte diese hohe Doppeltür aus Eichenholz gefertigt. Er und andere Schreiner und Steinmetze spendeten ihre Gesellen- und Meisterstücke für den Kirchenbau.

Jan Ottos Großmutter wohnte bis zur alles zerstörenden Bombennacht genau schräg gegenüber. Sie kannte Tor B gut. Ihre Schwester hatte sogar eine Fotografie, wie sie zur Konfirmation an dieser Tür stand. Solche Fotos mit offener Pforte waren die einzigen Restaurierungsvorlagen. »Meine Großmutter war sehr stolz auf mich, als sie hörte, daß ihr Enkelkind ›ihre‹ Tür zum Luther-Denkmal hin als Meisterstück baute.« Heute geben sich dort die vielen Besucher der Kuppel-Laterne die Klinke in die Hand. Sie ist also dauernd in Bewegung. »Da muß sie einfach bestens schließen.«

Eberhard Burger ist unübersehbar, nicht nur wegen seiner Größe, auch wegen seines hellblondlockigen Wallehaars auf rotem Kopf. So findet man leicht den »Vater« der verschworenen Gewerke-Familie, den Baudirektor aus Dresden. Flut, Stürme, Wetterschutzdach hydraulisch heben, Steinkuppel vollenden. Millimeterarbeit unter den Augen der Weltöffentlichkeit. Und wenn einmal etwas stockte, schauten alle zu ihm. In seiner unnachahmlich ruhevoll-eindringlichen Art half er es richten. Erreichte Tempo. Fast ein Jahr früher als ursprünglich geplant, wurde der hochkomplizierte Bau fertig – wo gibt es das heute noch? Auch dank des überwältigenden Engagements der Dresdner. Eine derartige Anteilnahme der Bürger am Baugeschehen gibt es nirgendwo sonst in Deutschland. Für Sachsens Landeskinder ist der Frauenkirchenbau gar die Ikone für ihren Glauben an den Aufschwung Ost, heißt es. Doch es gab auch Streit, ob der Wohnungsbau für die darbende Stadt nicht wichtiger wäre als die Wiedererrichtung einer Kirche, ob die Ruine als Antikriegssymbol nicht zu erhalten sei. »Eine geheilte Wunde ist besser als eine offene«, lautet Burgers Antwort.

Der Kenner aller bedeutenden Sakralbauten in und außerhalb Sachsens spricht leise und bedächtig, immer das Wesentliche im Blickfeld. Und wo liegt das Wesentliche der Frauenkirche? Unten. Er führt mich zu den Gewölben der Unterkirche. Am Ende erhebt sich ein barockes Grabmal. Es gehört George Bähr, dem widerspenstigen, doch genialen Ratszimmermeister Dresdens. Der Sohn eines Webers aus dem Erzgebirge hatte seinem neuartigen Zentralbau mit glockenförmiger Steinkuppel gegen den Hochmut seiner Gegner aus dem Lager der höfischen Architekten zum Durchbruch verholfen. Eigentlich sollte es eine kupferverkleidete Kuppel werden. Doch irgendwo tobte wieder ein Krieg. Kupfer für Kanonen. Das Buntmetall wurde zu teuer. Eine Kuppel aus Stein war Bährs Lösung. »Sie sehen, nicht wir haben das Wunder Frauenkirche vollbracht, sondern er. Wenn wir das heute nach 250 Jahren nicht besser hinkriegen würden, hätten wir unseren Beruf verfehlt«, sagt Burger, und man spürt, wie sehr er den einstigen Architekten verehrt.

In der Nähe thront der geheimnisvolle Altar, ein riesiger irischer Kalksteinblock mit einem enormen Trichter in der Mitte, der mich auch an einen Bombentrichter denken läßt, ebenso an ein bodenloses Loch, in das alles hindurchfällt, wenn wir die Werte des Lebens nicht achten. Und der Trichtergrund bezeichnet die Mitte der Kirche. Denn genau darunter, eingekeilt zwischen Eichenstämmen, sitzt George Bährs gelochter Zentrierstein, von dem aus noch immer alle Maße geführt werden. Hier unten also liegt der Ursprung des schönsten Zentralbaus nördlich der Alpen.

Ich kenne keinen Kirchenraum in Mitteleuropa, der so heiter, so licht, so festlich wirkt. Barock zwar, aber nicht höfisch überladen. Mit wunderbarem Rhythmus von weit geschwungenen, konkaven Emporen sowie der hufeisenförmig zum Altarraum aufschließenden Betstubenreihe und im Übergang zur Chorweitung konvexe Schwünge. Gottesdienstbesucher fühlen sich in die Mitte genommen. Gemeinde bildet sich hier sofort.

Mit mir gerät auch der leitende Architekt Uwe Kind ins Schwärmen. Er und sein Team hatten im rekonstruierten historischen Gewand auch moderne Funktionen unterzubringen. »Überall, wo Gestühl ist, läuft unsichtbar die Fußbodenheizung. Schauen sie, durch die Schlitze hinter uns strömt Frischluft und durch die Stufengitter zum Altar gelangt die Abluft hinaus.« Entlüftung bei den Heiligen. So gut wie nicht hörbar. Und hinter den historischen Fenstern liegen schallschluckende Innenfenster.« Letztere hat Kind gestaltet, in historischer Form mit modernem Anklang.

Der Chorraum war der größte stehengebliebene Ruinenstumpf. Im Feuer schmolzen die Pfeifen der Silbermann-Orgel. Zinn tropfte auf die Altarfiguren, der Heiland wirkte, als weine er. Der erste rekonstruierte Engel am Chorpfeiler rechts vom Altar sieht aus, als hätte er Zahnschmerzen, seine dunkle Backe ist original, den Rest des Gesichtchens mußte der Bildhauer ergänzen.

Den wirklichen Kerl da mit dem roten Bart kenne ich doch von irgendwoher, und auch er kann sich erinnern. Ja, ich habe über ihn schon in der Jungen Welt geschrieben, 1978 war das, als der Steinmetz Ralf-Peter Jeremias mir u. a. sagte: »Eigentlich könnte ich die Semperoper ganz alleine hochziehen, es dauert nur länger.« Was hätte er da verpaßt, denn inzwischen stand er auf den Gerüsten fast aller historischen Bauten Dresdens. Und nun arbeitete der Rotfuchs als Steinbildhauer an der Frauenkirche. »Da, die linke Chorschranke vorm Altarraum ist von mir. Und meine Vase obendrauf sah fertig richtig gut aus. Doch nachdem sie vergoldet wurde, erkennt man nicht mehr meine letzten, feinen Schläge im Stein. Der Barock will es halt glänzend.«

Bei diesem passablen Wetter wollen er und sein Kollege Mike Starke von den Sächsischen Sandsteinwerken auf die Aussichtslaterne. Oft sind sie den Schneckengang zwischen den beiden Kuppelschalen hinaufgehastet, ansteigend dreimal das gewaltige Rund umziehend. Mike hat hier kniend und liegend große quadratische Vertiefungen für mehr als 100 untenliegende Lampenkästen in die Steinwand gehauen und die großen Nischen für die Feuerlöscher, und draußen Gesimssteine mit dem Rotfuchs an der Laterne.

Dort zeigt mir Mike sein eigenes Steinmetzzeichen und auf einem dunklen Stein ein altes. »Es stammt von einem meiner Kollegen aus der Barockzeit. Er hat es wohl wie ich zum Abschluß seiner Arbeit mit Stolz in den Block gehauen, um zu sagen: Ich habe es gemacht, ich.« Weder König noch Priester waren in dieser Höhe. Das sahen höchstens die Männer des dritten Standes auf den Gerüsten. »Das sehen wir. Wir, die auch im Reich der Turmfalken und der Winde arbeiten.«

Christoph Wetzel, kräftige Statur, Denkerschädel, lebenshungrige Augen, über die auch eine Spur von Traurigkeit liegt, steht an der Weihnachtpyramide und blickt auf das dunkle Wandstück zwischen der hellen Fassade der Frauenkirche. »Das stand mal nackt da als eines von zwei Ruinenstümpfen, die aus dem Trümmerberg emporragten. Eine steinerne Anklage. »Ich habe das über die Jahre mehrmals gemalt. Doch daß ich einmal helfen kann, das zerstörte Gebäude zum Leben zu erwecken, davon hätte ich nicht zu träumen gewagt«, gesteht er.

Ich lege meinen Kopf weit in den Nacken, um Wetzels acht pastellfarbene Bildfelder zu sehen: die vier Evangelisten Lukas, Matthäus, Markus, Johannes und zwischen ihnen die christlichen Tugenden Glaube, Hoffnung, Liebe und Barmherzigkeit. Die Figuren sehen wunderbar leicht aus, als schwebten sie gen Himmel. Die Gestalt erhaben, der Gesichtsausdruck entrückt. »Je höher der Blick geht, desto leichter müssen die Formen sein«, weiß Wetzel.

Leicht war am Anfang gar nichts. Der frühere Steinmetz aus Berlin, heute ein expressiv realistischer Menschenmaler in Dresden, bekam erst nach einigen Anläufen und vielen Proben den Auftrag, die riesige Kirchenkuppel auszumalen. Sein Vorgänger war daran gescheitert. Peter Taubert stand Wetzel zur Seite; Taubert, ein in jeder Hinsicht großer Mann, einmeterdreiundneunzig, künstlerischer, restauratorischer und farbtechnischer Oberleiter der Frauenkirche. Über die gemeinsame Arbeit auf dem Gerüst sind beide Charakterköpfe Freunde geworden. Sven Taubert, der als Restaurator in die Fußstapfen seines Vaters tritt, stieß hinzu. Gemeinsam rührten sie die Farben nach alter Überlieferung an. »Rosé war unser Kampf, ein gefährlicher Ton, damit er nicht süß wird wie Brombeermilch, mußten wir ihn brechen, und auch gelb-ocker etwas vergrauen, damit es nicht zu pranzig wird.«

Wetzel mußte unter der Kuppel in die Rolle des damaligen Malers schlüpfen, die barocke Leichtigkeit des Venezianers Giovanni Battista Gronis nachempfinden. Doch von unten nervte ihn das Kreischen der Sägen und Schleifmaschinen und der wilde Hardrock vom Kofferradio der Tischler aus Chemnitz. Verärgert versuchte der Künstler mit Heinrich Schütz dagegenzuhalten. Zwecklos. Bis er dann nachts 40 Meter hoch auf seinem kühnen Gerüst unter der Kuppel ganz allein war. Glücklich. Um den Fuß des Lukas zu malen, stieg Wetzel die Leiter herunter, und um ans Gesicht zu gelangen wieder hinauf. Auf der doppelt gewölbten Fläche mußte er ziemlich balancieren, um abermaligen Verzerrungen auszuweichen. Immerhin haben die Bildfelder eine Höhe von sechs Metern. Wetzel und Taubert lagen öfter auf dem Rücken und haben von ganz unten die Malereien der Kuppel betrachtet. Und anschließend hat der Künstler am Gewand des Lukas korrigiert.

In Krisenmomenten beschlichen den Maler Gedanken wie: »Die ganze Welt schaut auf dich, und du blamierst dich rettungslos – wenn du es nicht schaffst!« Am Löwen vom Markus drohte er zu scheitern. Konnte er doch einfach keine Katzen malen, auch nicht, wenn ihn seine Tochter flehentlich darum bat. Es ist zum Brüllen, er schaute sich in Spielwarenläden Löwen an, studierte die Großkatzen in den Naturkundebüchern seiner Kinder. Und als ihn der Leo des Markus doch unter der Hand zu glücken schien, änderte er daran keinen Strich mehr.

Wenn es kriselte, flüchtete sich der Maler in die Köpfe. Auf der alten Fotovorlage sah Markus wie ein amerikanischer Santa Claus aus. Harmlos, wenig beseelt, kaum charismatisch. Und dann sah Wetzel den alten Taubert eine barocke Umrahmung ausmalen. Apostelgesicht, seinen Gottvaterbart in den Himmel gereckt. Und im Abstand von vier Metern malte der Künstler das Gesicht seines Freundes in beseelter Geste gleich auf die Kuppel. Und er weiß, daß auch vor 400 Jahren einige Kirchenmaler den Heiligen die Gesichter von wirklichen Menschen gaben.

Inzwischen hat Christoph Wetzel von den Evangelisten gewechselt »zum warmen, atmenden Leben, das mir Modell sitzt«. Es wird Zeit, daß seine Heimatstadt ihm eine Werkschau ausrichtet.

Mein Lieblingsplatz: 2. Empore, Reihe 1 mittig, Platz 41. Genau gegenüber an der prachtvollen Liturgie-Achse von Altar und der neuen Orgel von Daniel Kern aus Strasbourg. Annähernd 2000 »kleine« Besucher geben dem weithohen Raum eine Dimension. In dieser Murmelatmosphäre vor dem Konzert recken die Leute ihre Hälse, schauen und staunen. Freude in ihren Gesichtern. Dann zieht der junge Organist Samuel Kummer die Register. In großen Bögen spannen sich die Harmonien durch das weite Rund, Schwung und Gegenschwung lösen einander ab, steigen von Empore zu Empore und dann mit geballten Kraft zur Kuppel hinauf. Die ganze Architektur ist jetzt Musik. Strömt mit Bach dahin. Wunderbare Klänge flößen dem göttlichen Raume die rechte Beseelung ein und schallen in Tausenden Kostbarkeiten zurück.


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